ReForm
CLAUDIA WIESER, Muster und Formen, 30.04. – 11.06.2011, Galerie Ben Kaufmann, Berlin
Die Reformbewegung um 1900 sollte die Gesellschaft auf gute Weise für die Moderne rüsten – und scheiterte darin. Heute drohen Globalisierung, Computerzeitalter, aber niemand will mehr rüsten. Das ist der aktuelle Bezug einer auf die Vergangenheit gerichteten Ausstellung, deren Exponate politische Verweise aussparen. Verwiesen wird auf die Kunstgeschichte: Auf Arts & Crafts und Schwesterbewegungen, bei denen Moral gleich Design war; auf die 1920er und 1980er Jahre; verwiesen wird auf die Kunst: Nicht nur die Videos zeigen, wie die Augentäuschung Perspektive entsteht. Wandfüllende Fotografien, Skulpturen, Grafiken und Videos fügen sich zu einer bühnenartigen Installation, die bis ins kleinste Detail stimmig ist. Die Exponate verweisen aufeinander, auf den Kosmos der Geschichte und formen ein Gesamtkunstwerk.
Claudia Wieser gibt deutliche Bezüge auf das 19. bzw. frühe 20. Jahrhundert (Fotografien, Skulpturen). Es gibt daneben viele schwer zu fassende, nur zart anklingende Anspielungen auf historische Elemente: So erinnern die S/W-Fotografien an traditionelle kunsthistorische Fotografien. Die Skulpturen verweisen auf die Klassische Moderne oder ihr Revival in Design und Architektur der 1980er Jahre (z. B. Architekturdekoration der Römberbergbebauung Frankfurt am Main um 1985). Die Kleidung im Video - das einfarbige, langärmelige, ordentlich gebügelte Hemd – erinnert an die strenge Hemdbluse einer Gouvernante. Kleine Details, die den historisierenden Eindruck stören könnten, wurden unauffällig angepasst. So ist der Beamer selbst nicht zu sehen, der Beamersockel aus gutem Holz gearbeitet.
Im Video werden Ornamente mit Druckstempeln hergestellt. Das ist eine Anspielung auf Herstellungstechniken an der Grenze zwischen reiner Handarbeit und maschineller Herstellung. Der historische Prozess bei der Produktion von Dingen vollzog sich von reiner Handarbeit über die Manufaktur zur industriellen Fertigung. Dieser Prozess zog sich über Jahrhunderte hin. Die Umrüstung auf industrielle Fertigungsprozesse war ein wichtiges Thema von Kunsthandwerk und Architektur Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Einher damit ging die Frage nach Sinn und Funktion von Ornament und Dekoration.
Die Ausstellung wird zum Gesamtkunstwerk. Die Exponate sind nicht voneinander abzugrenzen: Der Sockel unter den Skulpturen ist selbst Skulptur und Teil des Kunstwerks, erfüllt aber dabei die Funktion eines Sockels. Die Farbigkeit ist "getunt". Alle Exponate kennzeichnet eine gemäßigte harmonische Farbwirkung. Der Ausstellungsraum wird zu einer "Bühne", wie man es aus historischen Ausstellungen kennt.
Beschworen wird der Geist der Reformbewegungen um 1900, die – mit Ernst und aus heutiger Sicht leichtgläubigen Eifer – das Leben von überflüssigen Traditionen befreien wollten. In einer Art Gesamtkunstwerk sollten sich Dekoration, Alltag und Idee untrennbar miteinander verbinden. Die Unterscheidung zwischen Kunst und Alltag, in Kunst und Design sollte so aufgehoben, der Mensch zu einem Besseren erzogen werden.
Auf der Einladungskarte sehen wir eine Frau im indischem Sari gebückt vor einem Sockel. Vollzieht sie ein Ritual vor den "white cubes" (eine Anspielung auf die Kunstwelt)? Der Sari der Frau ist gemustert. Auch hier verändert sich das Muster räumlich, entsprechend dem Körper der Frau.
Beschreibung
Räume
3 Räume: der Haupt- und Eingangsraum mit Fensterfront, der hintere Raum und eine Wand des Büros.
Exponate
Hauptraum:
Skulpturen und Sockel für Skulpturen: Bei einigen Sockeln ist die Oberfläche mit Keramikfliesen in einem cremeweiß-schwarzen Muster verkleidet. Skulpturen stehen auf den Sockeln: Sie sind in Grundformen (Kugel, Kegel, konische Form) gestaltet und farbig hauptsächlich in Grundarben gefasst und mit Gold geschmückt.
Größere Skulptur, bei der der mit blauen Kacheln geflieste Sockel mit seiner auf ihm liegenden Skulptur eines flachen Kegels zu einem Turm mit Dach verschmilzt.
Wandbilder – 3 fotografische Ansichten in s/w aus DIN-A4 großen Drucken aneinander gesetzt, ohne dass dieses Verfahren den Gesamteindruck einer großen Fotografie stört:
- Ansicht eines historischen Gebäudes, Kirche oder Rathaus mit einem vorgeblendeten Gang und Aufgang von einem fotografischen Blickwinkel, der extreme perspektivische Verkürzungen zur Folge hat
- Ansicht von Giebeln und Dächern historischer Architekturen wiederum aus einem Blickwinkel, der perspektivische Verkürzungen zur Folge hat
- Stuhl von vorne, aus der Zeit um 1900.
Hinterraum:
Videoprojektion – beide Videos zeigen einen Ausschnitt: Auf eine leere Fläche werden Muster gestempelt. Gezeigt wird, wie sich durch Hinzufügen der einzelnen Stempeldrucke ein Ornament oder eine perspektivischen Stadtlandschaft entwickelt. Von der stempelnden Person (wohl Claudia Wieser) sieht man nur den rechten Arm. Beide Male trägt sie ein einfarbiges, langärmeliges, ordentlich gebügeltes Hemd. Der Beamer steht in schlichter Präsentationskiste, die nicht aus billigen Materialien besteht, sondern aus durchsichtig lackiertem Hartholz.
Büro:
Grafiken hängen gerahmt nebeneinander an der Wand: Jeweils vor einem Hintergrund in einem Blauton heben sich konstruktive Zeichnungen in feinen goldenen Linien und weiteren Blautönen ab. Die Formen sind Kreise, Bögen und architektonische Linien.
Links
- http://www.benkaufmann.com/artists/claudiawieser/index.htm
Nach Ende der Ausstellung wurden die Angaben zur Claudia Wieser von der Seite genommen. - http://de.wikipedia.org/wiki/Claudia_Wieser
- http://www.kunstmuseum-stuttgart.de/index.php?site=Ausstellungen;Archiv&id=44
Im Katalog zur Ausstellung Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart, hg. v. Markus Brüderlin, Ulrike Groos, 2010, findet sich ein Interview mit Claudia Wieser.